Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts by Golo Mann

Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts by Golo Mann

Autor:Golo Mann [Mann, Golo]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-11-06T05:00:00+00:00


Geist und Ohnmacht

Am Ende seines kurz vor dem Weltkrieg abgeschlossenen Buches »Die Deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert« stellt Werner Sombart, einer der berühmtesten Nationalökonomen des Kaiserreichs, die Frage: Wie es denn nun eigentlich mit dem Geist dieses bewundernswerten Industriestaates beschaffen sei? Die Antwort des Professors ist pessimistisch. Etwa heißt es da:

»Die großen Ideale, die noch unsere Väter und Großväter begeisterten, sind verblaßt; die nationale Idee ist verbraucht, nachdem in mächtig aulllammender Begeisterung das Deutsche Reich errichtet ist. Was uns heute an Nationalismus geboten wird, ist ein schaler zweiter Aufguß, der niemand mehr so recht zu erwärmen vermag. Die hohle Phrase muß die innere Öde verdecken. Dasselbe gilt von den großen politischen Idealen, um die unsere Vorfahren in den Tod gegangen sind. Teils sind sie verwirklicht, teils in ihrer Belanglosigkeit erkannt worden. Die junge Generation lächelt überlegen, wenn sie von dem Kampfe um die politischen Freiheitsrechte liest, und die Erinnerungsfeiern der großen Begeisterungszeiten werden zu lächerlichen Farcen. Neue politische Ideale sind aber nicht erstanden... So endigt das 19. Jahrhundert mit einem ungeheueren Defizit an idealer Begeisterung, an der gerade die letztvergangen Zeiten so überreich gewesen waren. Und nun in dem Maße, wie die idealen Güter schwinden, treten naturgemäß die materiellen Interessen in den Vordergrund, und die Massen, die von keiner Idee mehr gefesselt werden, scharen sich um die Fahne der sozialen Klasse, wenn sie nicht vorübergehende wirtschaftliche Interessen zu gelegentlichen Sonderverbänden zusammenführt, wie augenblicklich die >Agrarier< im Bund der Landwirte, der mit der ungünstigen Konjunktur auf dem Agrarproduktenmarkte entstanden ist und verschwinden wird. Aber auch diese gewaltige Massenorganisation ist aus rein ökonomischem Geiste geboren... Und wie es nicht anders zu erwarten ist: mit der Fähigkeit, sich für große Ideale zu begeistern, ist in unserem öffentlichen Leben auch die Freude an der Vertretung großer politischer Grundsätze verschwunden. Ein prinzipienloser, öder Opportunismus, eine schwunglose Geschäftsmäßigkeit haben die Herrschaft über unsere Politik errungen. Wer mag heute noch über die prinzipielle Berechtigung des Staatsbetriebes, des Arbeiterschutzes, der Gewerbefreiheit, der Genossenschaftsorganisation, des Freihandels mit Feuer streiten?... Man möchte es fast für unmöglich halten, daß dasselbe Volk, in dem vor hundert Jahren die Stein, Hardenberg, Schön und Thaer Gesetze machten, in dem in den 1820er und 1830er Jahren Männer wie Nebenius, Humboldt, List den Ton angaben, in dem vor einem halben Jahrhundert eine Versammlung wie die der Männer der Paulskirche die Geschicke der Nation berieten, in dem vor einem Menschenalter noch ein Treitschke und ein Lassalle am politischen Horizont wetterleuchteten, in dessen Parlamente vor wenigen Jahrzehnten Männer wie Bennigsen, Lasker, Bamberger, Windthorst, Reichensperger mit einem Bismarck die Klinge kreuzten, daß dasselbe Volk, sage ich, einen solchen Tiefstand des politischen Lebens erreicht hat, wie ihn uns die Gegenwart erleben läßt.«

Bewunderer der guten alten Zeit auf Kosten des Gegenwärtigen hat es immer gegeben. So sah man in den 1920er Jahren mit Neid auf das hohe Niveau des deutschen Parlamentarismus in der Kaiserzeit; so in der Kaiserzeit mit selbstkritischer Wehmut auf die politischen Kämpfe Bismarcks und gegen Bismarck, während dem Erzähler schon das Bismarckreich geistig heruntergekommen schien, wenn man es maß an den Versprechen von 1808 oder 1848.



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